Mensch, wo bist du?

„Wieder kein Mensch da!“ beklagen wir uns, wenn wir mit etwas alleine gelassen werden. Niemand fühlt sich verantwortlich! Heute gibt es oft Gelegenheit zu rufen: Mensch, wo bist du, wenn die Gletscher schmelzen und die Meere steigen? Was machst du, wenn Minderheiten ausgegrenzt und Schutzbedürftige abgewiesen werden? Wie reagierst du, wenn Gleichgültigkeit oder Hass zunehmen? Mensch, wie willst du die Zukunft gestalten?

Wo bist du? Mit diesen Worten ruft Gott, so erzählt es die Bibel, den ersten Menschen im Paradies (Gen 3,9). Voller Scham haben sie sich nach dem Biss in die verbotene Frucht versteckt. Adam und Eva mussten sich ihrer Verantwortung stellen. Die Herausforderung der Frage aber ist geblieben.

Die Welt verändert sich tiefgreifend und in rasantem Tempo. Staatenverbände beginnen zu zerfallen. Länder isolieren sich und verfolgen oft nur ihre eigenen Vorteile. Grenzen werden dichtgemacht und Mauern hochgezogen. Die Wahrheit verkommt zu Fake News und der Ton verschärft sich.

Die Frage Gottes ist vor diesen Geschehen nach wie vor aktuell. Sie drückt die Sorge um das „gemeinsame Haus“, um unsere gemeinsame Welt aus, wie Papst Franziskus es in seiner Enzyklika Laudato Si formuliert hat. Dieses eine Haus sehen wir im Zentrum des Hungertuchs von Uwe Appold. Das Haus ist immer noch unfertig. Es hat eine geöffnete Seite – offen wie ein Fragezeichen: Mensch, wo bist du? Mensch, wer bist du? Wo stehst du und wofür stehst du auf? Wofür engagierst du dich?

Die Frage Gottes nach dem Menschen ist aber nicht nur eine Frage. Sie ist zum einen eine Aufforderung, dass wir Menschen uns den Herausforderungen der Zeit stellen und zum anderen aber auch die Zusage Gottes, dass wir es schaffen können. Unser gemeinsames Haus auf dem Bild von Uwe Appold erstrahlt auch durch uns in hellem Gold. Der Mensch, als Abbild des Schöpfers, trägt ihn in sich und so werden unsere Hände zu jenen Gottes.

Es ist gewiss nicht leicht, sich nicht von den Meldungen der Welt beeinflussen zu lassen.

Wie soll ich als einzelne*r dagegen noch etwas tun? Wie klein und verschwindend die Handlungen einzelner vielleicht auch erscheinen mögen, auch hier gilt das saloppe Sprichwort: „Kleinvieh macht auch Mist!“

So wie jeder weggeworfene Plastikgegenstand gefahrläuft, im Meer zu landen, so wie Abwenden und Wegschauen von Alltagsnot dazu führt, dass unsere Gesellschaft verroht – so führt jeder bewusste plastiklose Einkauf dazu, dass ziemlich sicher ein Teil weniger im Meer landet und jedes noch so müde Lächeln im Büro, auf den Straßen oder in der Bahn, dass wir Menschen wieder anfangen das zu leben, was Jesus von uns fordert: Nächstenliebe.

Jede*r ist verantwortlich für die Zukunft unserer einen Welt. Am besten jedoch gemeinschaftlich im Offen-sein für die Mitwelt, die Natur und die Abgehängten unserer Gesellschaft.

Dass wir das können, darauf vertraut Gott, dafür ist er Mensch geworden und deswegen lässt er uns auch heute noch die Botschaft seines Sohnes hören: „Ein neues Gebot gebe ich euch: Liebt einander! Wie ich euch geliebt habe, so sollt auch ihr einander lieben!“ (Joh 13,34)

Vielleicht können Sie in einer der Kirchen Ihrer Seelsorgeeinheit das ganze Hungertuch von Uwe Appold betrachten. Fragen Sie vor Ort nach und nehmen Sie sich mal eine Pause am Tag um es auf sich wirken zu lassen.

Text und Gedanken nach Dr. Claudia Kolletzki und Andreas Chucherko
Bild: Hungertuch 2019/2020 „Mensch, wo bist du?“ von Uwe Appold