Zwischen großer Unsicherheit und existentieller Not

Betriebsseelsorger Wolfgang Herrmann spricht über die Konsequenzen der Corona-Pandemie für die Arbeitswelt.

www.pfarrbriefservice.de; Peter Weidemann

Stuttgart. Pfarrer Wolfgang Herrmann leitet seit 13 Jahren den Fachbereich Kirche und Arbeitswelt und ist damit oberster Betriebsseelsorger in der Diözese Rottenburg-Stuttgart. Im Interview berichtet er, vor welche Herausforderungen die Corona-Pandemie die Betriebsseelsorge stellt – organisatorisch und inhaltlich. Zudem erzählt er, was den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern aktuell am meisten Sorgen bereitet.

Pfarrer Herrmann, wir leben nun schon in der sechsten Woche mit Kontaktsperre in Baden-Württemberg. Die Schulen und Kindergärten sind seitdem geschlossen und für die Arbeitswelt stellen sich ganz neue Herausforderungen und zwar sowohl für jene, die im Homeoffice arbeiten können, als auch für Arbeitnehmer, die ihre Aufgaben in der Klinik oder im Pflegeheim, im Betrieb, an der Kasse oder auf der Baustelle erfüllen müssen. Wann ist die Viruskrise denn als Thema erstmals bei Ihnen und Ihren Kollegen in der Betriebsseelsorge angekommen?

Herrmann: Da kann man von zwei Phasen sprechen. Zunächst war das Virus noch weit weg, aber die ersten Maßnahmen zur Eindämmung der Epidemie in China mit der Einstellung der Produktion in vielen Firmen haben schnell gezeigt, dass auch die Lieferketten nach Deutschland betroffen sein werden. Als sich dann Anfang März das Virus endgültig auch in Europa massiv verbreitete und pandemische Züge annahm, war uns klar, dass die Shutdowns heftige Auswirkungen auf die Gesellschaft als Ganzes und damit auch auf die Arbeitswelt bei uns haben werden. Im Zuge der Einschränkungen des öffentlichen Lebens war dann auch unsere Arbeit unmittelbar betroffen, da wir keine aufsuchende Betriebsseelsorge mehr machen, uns als Team nicht mehr treffen und nicht in die Betriebe gehen konnten – was zum Herzstück der Arbeit eines Betriebsseelsorgers gehört.

Wie funktioniert Betriebsseelsorge, wenn es ein Kontaktverbot gibt, Sie und Ihre Kollegen sich also nicht mit denjenigen persönlich treffen können, die bei Ihnen Rat suchen?

Herrmann: Betriebsseelsorge lebt von der Begegnung, vom Gespräch und vom ganz niederschwelligen Nachfragen, wenn man jemanden trifft, ob alles in Ordnung ist. Das ging nun von heute auf morgen nicht mehr. Wie für alle Bevölkerungsgruppen ist das auch für uns eine komplett neue Situation, in der wir täglich neu erfinden müssen, wie Betriebsseelsorge unter diesen Bedingungen funktionieren kann. Wir haben notgedrungen auf eine Beratung und Seelsorge am Telefon und per E-Mail umgestellt und dafür gesorgt, dass unsere Erreichbarkeiten klar kommuniziert werden – auch in den Betrieben und gegenüber unseren Partnern in der Arbeitswelt. Zudem haben wir für die Gruppen, die sich normalerweise unter dem Dach der Betriebsseelsorge treffen, wie zum Beispiel den Erwerbslosentreffs, als Alternative Telefonketten organisiert, damit niemand in die soziale Isolation gerät und wir für alle eine Art soziales Netz aufbauen können.

Neben der Angst um die Gesundheit und den alltäglichen Einschränkungen hat die Corona-Pandemie weitreichende Auswirkungen auf die Arbeitswelt. Welche Ängste und ganz konkreten Probleme beschäftigen die Arbeiter und Angestellten gerade am meisten?

Herrmann: Viele treibt die Frage um, wie es mit ihrer Arbeit weitergeht. Immer mehr Betriebe melden Kurzarbeit an, was zu unmittelbaren Einkommenseinbußen führt, und keiner kann derzeit abschätzen, wie lange das andauern wird. Manchem Betrieb droht sogar die Insolvenz. Da wächst die Angst, den Job zu verlieren. In anderen Branchen wie zum Beispiel den Paketdiensten haben die Arbeitnehmer dagegen mehr Arbeit, als ihnen lieb ist. Und für fast alle geht es tagtäglich auch darum, wie Beruf und Familie miteinander zu vereinbaren sind, wenn Schulen und Kitas geschlossen sind. Das bedeutet einen enormen Druck und Stress für die vielen Betroffenen. Die Personal- und Betriebsräte sind zudem gefordert, wenn es darum geht, in kürzester Zeit neue Vereinbarungen beispielsweise zum Gesundheitsschutz oder Homeoffice in den Betrieben zu schließen. Corona trifft die Gesellschaft einfach in all ihren Ausprägungen, aber natürlich gibt es Menschen, die ganz besonders betroffen sind. Denken Sie nur an jemanden, der im Niedriglohnsektor arbeitet und nun in Kurzarbeit geht. Der ist ganz schnell am finanziellen Limit angekommen.

Was sagen Sie jemandem, der Existenzängste hat oder auch ganz existentielle Probleme, wenn er oder sie wirklich den Job verloren hat und von seinem Gehalt nicht mehr leben, die Miete nicht mehr finanzieren kann und eine ganz reale Bedrohung verspürt?

Herrmann: Wir Betriebsseelsorger hören zuerst einmal ganz genau zu. Die Betroffenen sollen in Ruhe von ihren Ängsten und Sorgen berichten können. In einem zweiten Schritt erarbeiten wir mit ihnen mögliche Perspektiven und stabilisieren damit die Menschen, damit sie handlungsfähig bleiben und aus einem drohenden Tunnelblick, der vom Zweifeln ins Verzweifeln führt, wieder herauskommen. Die Seelsorge stabilisiert, die Beratung eröffnet Handlungsoptionen. Wenn jemand beispielsweise fürchtet, dass er die Miete nicht mehr zahlen kann und bald mit seiner Familie auf der Straße sitzt, dann verweisen wir zunächst einmal darauf, dass in Corona-Zeiten eine Mietkündigung nicht ohne weiteres ausgesprochen werden kann. Je nach Situation verweisen wir auch auf unsere Kollegen in der Sozialberatung oder Fachberatungsstellen wie den Mieterbund.

Die Corona-Pandemie ist für alle eine besondere Herausforderung, gerade auch für Sie als Betriebsseelsorger. Woraus schöpfen Sie selbst in dieser schwierigen Zeit Kraft?

Herrmann: Mich treibt die Situation ziemlich um und ich schlafe nicht immer gut. Da wir erst am Anfang der Pandemie stehen, kann ich nur sehr schwer abschätzen, welche harten Konsequenzen die Pandemie für uns, aber gerade auch für die Menschen in den ärmeren Ländern haben wird. Da mache ich mir große Sorgen. Als Betriebsseelsorger sind wir aber gerade in der aktuellen Lage besonders wichtig für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Auch in dieser Zeit muss die Betriebsseelsorge da sein, wo sich das Leben und Arbeiten der Menschen abspielt – eben in veränderter Form. Die Erfahrungen von Solidarität geben mir dabei Kraft – auch ganz konkret im biblischen Auftrag Jesu, den Menschen nahe zu sein und ihnen zu helfen.